Hörbare Gebärden

Thema des Projekts ist die Erforschung der gestischen Ausdrucksweise von Musik in ihrer systematischen, historischen und aufführungspraktischen Dimension über die Epochengrenzen hinweg. Gemeinsame Veranstaltungen wie etwa die Übung Klang Körper Mensch. Der Körper in der Musik des 20. Jahrhunderts im Herbstsemester 2014 flankierten drei größere Einzelprojekte, die im Folgenden kurz vorgestellt seien: 

Arne Stollberg: Wandlungen musikalischer Gesten im späten 18. Jahrhundert (Arbeitstitel)

Im späten 18. Jahrhundert entstand eine Auffassung des Körpers als Medium "natürlichen Ausdrucks", die dem höfischen Gesellschaftsideal noch fremd war, aber bis heute ihre Gültigkeit bewahren konnte. Welche Folgen hatte dies für die Musik? Als Ausgangspunkt der Untersuchung sind die Gattung des Melodrams und andere Spielarten des Musiktheaters (Oper, Ballett) in den Blick zu nehmen, schließlich aber auch Werke der reinen Instrumentalmusik. Methodisch soll in interdisziplinärer Perspektive auf zeitgenössische Quellen zu Schauspielästhetik, Physiognomik und Pathognomik, aber auch auf medizinische Traktate rekurriert werden, um dieses von der Musikwissenschaft kaum je zur Kenntnis genommene Quellenmaterial für die analytische Betrachtugn musikalischer Partituren sowie für die Rekonstruktion der an sie geknüpften Aufführungsmodalitäten nutzbar zu machen.

Florian Henri Besthorn: DieBedeutung des Körpers in den Kompositionen Jörg Widmanns (Arbeitstitel)

Die Werke des jungen deutschen Komponisten Jörg Widmann (*1973) sollen anhand der Behandlung des menschlichen Körpers sowie der Klangkörper im Allgemeinen untersucht werden. Ausgehend von den (musik-)ästhetischen Diskursen der letzten 50 Jahre soll die Bedeutung des Körpers in der "Neuen Musik" untersucht werden, welche Widmann bspw. durch überdrehte Virtuosität in Solostücken ad absurdum führt und stets versucht physische Grenzen zu überschreiten. Zudem wird auf die Divergenz zwischen musikalischen "Fremdkörpern" und klingenden "Geräuschwelten" einzugehen sein.

Jana Weißenfeld: "Verkörperung" – Zur Inszenierung der Dirigentenfigur im Konzertfilm(Arbeitstitel)

Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit der Inszenierung von "Körperlichkeit" in Bezug auf die Darstellung des Dirigenten und – im Kontrast dazu – des Orchesters in ausgewählten Konzertfilmen. Die Betrachtung von Verfilmung musikalischer Werke vor allem aus dem Bereich der Sinfonik des 19. Jahrhunderts soll mit Hilfe des Begriffs der "Verkörperung" in Verbindung mit verschiedenen Konzepten der musikalischen Interpretation unter neuen Gesichtspunkten ein ästhetisches Spannungsfeld behandeln, in welchem sich geschichtlich virulente Oppositionen ergänzen und durchkreuzen: Postulate der "Werktreue" einerseits und konträr eingeforderte Interpreten-Subjektivität andererseits, wie sie sich als scheinbar unvereinbare und doch komplementäre Konzepte in vielen Konzertfilmen auch visuell zu manifestieren scheinen.

ProjektleiterArne Stollberg
MitarbeitendeFlorian Henri Besthorn, Jana Wießenfeld, Alexandra Gronwald, Madita Knöpfle

 


DirigentenBilder. Musikalische Gesten – verkörperte Musik

Die pragmatische Antwort liegt auf der Hand: Es bedarf – so würde man annehmen – vor allem eines "Kapellmeisters", um die Einsätze und das Tempo zu koordinieren, das Zusammenspiel zu regeln, gleichsam die Vielzahl der musikerinnen und Musiker zu einem homogenen "Klangkörper" zu verschmelzen.

Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Der Dirigent scheint auch aus einem ganz anderen Grund vonnöten, nämlich um die unsichtbaren Töne und Tonfolgen durch seine Gesten sichtbar zu machen, ihnen buchstäblich (s)einen Körper zu leihen; mehr als Darsteller musikalischer Verläufe denn als ihr Regisseur. Dirigieren wäre in diesem Fall immer zugleich ein theatraler Akt, ein Tanz am Pult, der eigene östhetische Qualität besitzt und nicht in blosser Funktionalität aufgeht, gleichsam nur im Blick auf das akustische Ergebnis Relevanz besitzt. Und zugleich stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die Gestik des Dirigenten tatsächlich zu jener "Interpretation" steht, die ihr als hörbares Resultat entspringt. Ziel der Vortragsreihe DirigentenBilder: Musikalische Gesten – verkörperte Musik ist es, sich dem Topos des Dirigenten als "Verkörperungsmedium" von Musik aus verschiedensten Perspektiven zu nähern. Thematisch und organisatorisch angebunden an das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte und am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel beheimatete Forschungsprojekt Hörbare Gebärden – Der Körper in der Musik", umfasste die Ringvorlesung im Herbstsemester 2013 insgesamt 14 Referate von GeisteswissenschaftlerInnen aus dem In- und Ausland. Sie fand jeden Dienstag um 18:15 Uhr im Vortragssaal des Musikwissenschaftlichen Seminars statt und richtete sich gleichermassen an Studierende und Froschende wie an die interessierte Öffentlichekeit. Zusätzlich wurde ein Podiumsgespräch mit dem renommierten Dirigenten und Musikforscher Peter Gülke sowie Ulrich Mosch, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kurator der Paul Sacher Stiftung organisiert.

DirigentenBilder sollen im Rahmen der Vortragsreihe aus einer doppelten Perspektive betrachtet werden. Auf der einen Seite stehen die vom Dirigenten selbst hervorgerufenen Bilder: Welche kinetischen Visualisierungen einer bestimmten Musik erzeugen Dirigenten, wenn sie diese mithilfe ihres eigenen Körpers interpretieren? Welche Bedeutung besitzt der Dirigentenkörper für die erklingende Musik, und in welcher Beziehung steht er zum "Klangkörper" des Orchesters? Auf der anderen Seite sind aber auch diejenigen Bilder – "Images" – relevant, die sich von der traditionsreichen Figur des Dirigenten im kulturellen Gedächtnis gespeichert haben: Welche verschiedenen Funktionen und Fähigkeiten wurden ihm zugesprochen, wie haben sich die Bilder über den Dirigenten im Laufe der Zeit gewandelt (vor allem auch hinsichtlich der zunehmenden Transformation einer früheren Männerdomäne durch Dirigentinnen und somit möglicherwiese durch das Phänomen "weiblichen Dirigierens"), und wie wurden beziehungsweise werden sie medial übermittelt? Ziel der Vortragsreihe ist es, ein möglichst facettenreiches Panorama dieser DirigentenBilder zu entwerfen und somit der Bedeutung der Dirigentenfigur als einem in Theorie und Praxis nach wie vor prägenden Bestandteil der Musik- un Interpretationskultur nachzugehen. Ziel der Vortragsreieh ist es, an den Schnittstellen von Musik-, Theater- und Medienwissenschaft ein möglichst facettenreiches Panorama dieser DirigentenBilder zu entwerfen und somit der Bedeutung der Dirigentenfigur als einem in Theorie und Praxis nach wie vor prägenden Bestandteil der Musik- und Interpretationskultur nachzugehen.

Ein zentraler Schwerpunkt der Veranstaltung liegt auf Basel selbst, das heisst auf Forschende der verschiedenen ortsansässigen Institutionen. Neben den Mitgliedern des Projekts Hörbare Gebärden – Der Körper in der Musik, die sich jeweils mit einem Vortrag beteiligen, und weiteren MitarbeiterInnen des Musikwissenschaftlichen Seminars sind mit Nicola Gess auch das Deutsche Seminar, mit Jörg-Andreas Böttischer die Schola Cantorum Basilensis und mit Ulrich Mosch die Paul Sacher Stiftung vertreten.

Die Aktualität der Themen "Körper" und "Verkörperung" auch für die Geisteswissenschaften zeigt sich seit einigen Jahren in intensiven Forschungen etwa von Seiten der Soziologie, der Kulturwissenschaft, der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, der Performance Studies oder der Gender Studies. Aber auch in anderen Disziplinen, nicht zuletzt in der Musikwissenschaft, werden Aspekte des Körperlichen neuerdings stärker berücksichtigt. So hat sich das am Musikwissenschafltichen Seminar der Universität angesiedelte Projekt Hörbare Gebärden – Der Körper in der Musik die Erforschung der gestischen Ausdrucksweise von Musik in ihrer systematischen, historischen und aufführungspraktischen dimenson über die Epochengrenzen hinweg zum Ziel gesetzt. Die Vortragsreieh DirigentenBilder: Musikalische Gesten – verkörperte Musik ist die erste öffentliche Veranstaltung dieses Projekts und schlisst sich thematisch an das laufende Dissertationsvorhaben von Jana Weißenfeld an.

Bei der Thematisierung der körperlichen und gestischen Aspekte von Musik stllt die Figur des Dirigenten einen interessanten Sonderfall dar. Denn beim Dirigenten ist der Fokus zwangsläufig auf seine Körperlichkeit gerichtet: Als Musiker ohne Instrument steht ihm nur sein eigener Körper (eventuell ergänzt durch den Taktstock) zur Verfügung, um ein Orchester zu leiten, welches wiederum als "Instrument" zur Musikerzeugung dient. Neben der Verkörperung seiner materiell ungreifbare Musik zu "verkörpern", sie durch Bewegung plastisch werden zu lassen. Insofern stellt die Sichtbarkeit des agierenden – gewissermassen "tanzenden" – Dirigenten als Vermittlungsinstanz (sowohl zwischen der Musik und den OrchestermusikerInnen, besonders aber auch zwischen der Musik und den RezipientInnen) ein wichtiges Element für die Konstituierung musikalsicher Expression dar, bis hin zu Helmuth Plessners Diktum von 1923: "In der unmittelbaren Bewirkung oder der unmittelbaren Erweckung von Gesten, welche Tänzer und Dirigenten ausführen, der Hörer nur im Keimzustande erlebt, liegt das Wesen des musikalischen Eindrucks."


Galerie "DirigentenBilder"