Musik und Kitsch

Ave maria

Postkarte mit Incipit von Franz Schuberts «Ave Maria» um 1900, Verlag Jacques Philipp, Wien (Bildnachweis: Zentrum für Populäre Kultur und Musik Freiburg, LP 2887)

Hindemith

Paul Hindemith, «Duett-Kitsch» aus der Oper Neues vom Tage, Ausschnitt der Takte 284–287 (Giselher Schubert [Hrsg.], Paul Hindemith. Gesammelte Werke I / 7,1, S. 170)

Was ist Kitsch? Die Antwort auf diese harmlos wirkende Frage scheint zunächst recht einfach, hat man doch so seine intuitiven Vorstellungen von Kitsch. Diffiziler wird es bereits, wenn nach einer plausiblen Begründung gesucht wird, warum das eine als ‹(gerade noch) schön›, das andere als ‹(schon zu) kitschig› empfunden wird. Spätestens beim Versuch einer trennscharfen Grenzziehung zwischen den ästhetischen Phänomenen ‹Kitsch› und ‹Kunst› dürften Verwirrung und Unsicherheit zunehmen: Je konkreter also die Antwort auf die Frage ‹Was ist Kitsch?› ausfallen soll, desto deutlicher wird, wie komplex die Beschreibung und wie illusorisch eine allgemeingültige Definition von Kitsch sind. Denn Kitsch wird nicht nur individuell unterschiedlich wahrgenommen, sondern ist auch von äußeren Faktoren wie etwa Zeit, Ort, sozialer Prägung oder gesellschaftlicher Situierung abhängig. Der Begriff ‹Kitsch› kann dabei auf Gegenstände und Kunstwerke (bzw. -produkte) bezogen werden, ‹kitschig› kann aber auch eine Haltung sein, die den Objekten entgegengebracht wird.

Das Forschungsvorhaben stellt Kitsch als soziales, ästhetisches und politisches Phänomen in den Mittelpunkt des Interesses. Am Beispiel verschiedener Bereiche aus Kultur und Alltag soll untersucht werden, welche Kriterien wann und warum als maßgeblich für Kitsch angesehen werden. Dabei ist entscheidend, Kitsch nicht als universell beschreibbares Phänomen zu begreifen, sondern unterschiedliche Rezeptionszusammenhänge zu berücksichtigen. So wird aus der Beschäftigung mit der Geschichte des Begriffs deutlich, dass es sich bei ‹Kitsch› nicht um eine eindeutig fixierbare Terminologie handelt. Vielmehr ist ‹Kitsch› ein Schlagwort, das zunächst häufig mit pejorativen Absichten verwendet wird, seit Mitte des 20. Jahrhunderts aber zunehmend auch positiv aufgefasst werden kann.

Nach einer allgemeinen Annäherung an das Phänomen steht der ‹musikalische› Kitsch im Zentrum der Untersuchung. Diese Schwerpunktsetzung ist insbesondere auch deshalb reizvoll, weil eine Monografie zu diesem Themenkomplex noch aussteht. Erstaunlich ist dies nicht zuletzt deswegen, weil der Musik immer wieder eine direkte und zielgerichtete Zuwendung an die Gefühlswelten des Rezipienten sowie eine unmittelbare Aussprache von Gefühlen attestiert wird und die Musik daher für Kitsch besonders empfänglich zu sein scheint. Anhand von wenigen ausgewählten Musikbeispielen – die allesamt ‹Grenzfälle› zwischen ‹Kitsch› und ‹Kunst› darstellen – soll in der Arbeit ausgelotet werden, wer welche Musik in welchem Zusammenhang als kitschig empfindet: Im Fokus stehen dabei Franz Schuberts Lied ‹Ellens Gesang Nr. 3› (das bereits auf Schuberts Zeitgenossen lange vor dem Aufkommen des Begriffs ‹Kitsch› eine besondere Wirkung ausübte und in unzähligen Bearbeitungen und Arrangements als ‹Ave Maria› Weltkarriere machte); Gustav Mahlers ‹Adagietto› aus seiner 5. Sinfonie (das durch Luchino Viscontis Verwendung in seinem Film Tod in Venedig eine gänzlich andere Wirkung entfaltet als im Gesamtzusammenhang der Mahlerschen Sinfonie); sowie Paul Hindemiths ‹Kitsch-Duett› aus seiner Oper Neues vom Tage (das insbesondere deshalb ein dankbares Beispiel abgibt, weil der Komponist selber sein Stück mit «Kitsch» überschrieben hat und hier unverfänglich und ohne ‹Kitschvorwurf› analysiert werden kann, wie Hindemith komponiert, wenn er kitschig sein will).

Aus den Ergebnissen der Fallstudien lassen sich Rückschlüsse auf die Entwicklung des (deutschsprachigen) Musiklebens und der (deutschsprachigen) Musikkultur mit ihrer typisch deutschen Debatte um ‹ernste› und ‹unterhaltende› Musik ableiten beziehungsweise verstehen. Denn ‹Kitsch› ist, wie zu zeigen sein wird, eines jener Schlagworte, das die Herabsetzung einer bestimmten Musik zugunsten einer als höherwertiger empfunden Tonkunst in einem Wort auf den Punkt bringt. Häufig wird der Kitschbegriff von Kritikern für kommerziell erfolgreiche, populare Musik verwendet. Doch auch Vertreter eines ‹Mehrheitsgeschmacks› wissen sich zu wehren, wenn mit dem Schlagwort des ‹sauren Kitschs› schnell auch dorthin zurückgeschossen wird, woher der Begriff zu kommen scheint: auf die Avantgarde, die als Hüterin des Kunstbegriffs angesehen wird.

Andreas Baumgartner

 

DoktorierenderAndreas Baumgartner
Erstbetreuer*inMatthias Schmidt
Zweitbetreuer*inFriedrich Geiger (Hamburg)
Drittbetreuer*in

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