Ausbau und Modernisierung: Das Mikrofilmarchiv des Musikwissenschaftlichen Seminars

Jacques Handschin

Jacques Handschin

Am 12. Oktober 1936 richtete der seit knapp einem Jahr berufene Ordinarius des Musikwissenschaftlichen Seminars Jacques Handschin an die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel, einen Brief mit dem folgenden Gesuch: "Im Einverständnis mit dem Paläographen, Herrn Kollegen Albert Bruckner, erlaube ich mir, Sie um die Bewilligung von 600 Fr. an das Musikw. Seminar der Universität zur Anschaffung einer photographischen Leica-Einrichtung zu bitten. Der derselben wäre: 1) das photographische Archiv des Seminars mit Aufnahmen zu speisen; eine eigentlich wissenschaftliche Tätigkeit, wie sie das Musikw. Seminar neben der Lehrtätigkeit bezweckt, kann nur an Hand eines umfassenden Urmaterials durchgeführt werden; […] in erster Linie würde es sich um die Aufnahme von nach Basel geliehenen Handschriften handeln […]."

Die Einrichtung sollte nicht nur dem Seminar dienen, sondern war auch dazu vorgesehen, an andere "Schwester-Institutionen" – erwähnt wird etwa das Historische Museum – ausgeliehen zu werden. In der Sitzung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft vom 20. Oktober 1936 wurde das Gesuch bewilligt und Handschin der Entscheid am darauffolgenden Tag mitgeteilt. Damit war der Grundstein zum Mikrofilmarchiv des Musikwissenschaftlichen Institus gelegt, das somit nur wenig jünger ist als dieses selbst.

Im Laufe dieser Zeit ist eine Sammlung zusammen getragen worden, die Ihresgleichen sucht: Auf mehr als 10'000 Filmen und über einer Millionen Aufnahmen enthält es nahezu alle bekannten Quellen der mehrstimmigen Musik bis ins späte 15. Jahrhundert, repräsentative Quellen zum 16. und zur Vokalmusik des 17. Jahrhunderts, umfangreiche Bestände der Quellen zum älteren Choral – davon nahezu vollständig die Quellen der mittelalterlichen Neugestaltung im Tropus und weiteren Gattungen – und zu weltlichen Liedern der Troubadours und Trouvères, daneben ausgewählte musiktheoretische und liturgische Handschriften und Spezialsammlungen zum Gesang der Ostkirchen und zu arabischen Musiktheorie.

Den Kerngedanken einer solchen Einrichtung hatte Handschin bereits in seinem Gesuch angedeutet: dass "Eine eigentlich wissenschaftliche Tätigkeit […] nur an Hand eines umfassenden Urmaterials durchgeführt werden" könne, wozu Wulf Arlt, emeritierter Ordinarius und langjähriger Leiter des Archivs ausführt; "Für Handschin war es entscheidend mit den Quellen zu arbeiten. Es ist auch heute noch entscheidend, mit den Quellen zu arbeiten, weil sie ganz viele Informationen enthalten, die man nicht übertragen kann" und demnach auch nicht aus Editionen zu erfahren sind.

Die technische Einrichtung, die zum Betrieb eines solchen Archivs notwendig ist, wurde Anfang 1937 erworben, in den Ausgaben des Seminars vom 26. Januar 1937 steht unter dem Posten "Strübin (Photo)" ein Betrag von 505,70 Fr. In den kommenden Monaten erscheinen immer wieder neue Rechnungsposten für den Einkauf von Filmen, Film-Taschen, Photo-Alben und anderen Ausrüstungsgegenständen, so dass man von einer regen Sammeltätigkeit ausgehen darf. Handschin resümiert denn auch im Jahresbericht für 1937, dass "bereits in den ersten Tagen dieses Jahres [1937] […] 5 wichtige St. Galler Handschriften […] für dieses Archiv photographiert" wurden. Im selben Jahr berichtet er von der Erweiterung der Sammlung um Abbildungen von "Denkmäler[n] aus der Schweiz und der oberrheinischen Nachbarschaft", wobei zudem der Erwerb von Aufnahmen aus der Bibliothèque National in Paris in Aussicht gestellt wurde.

Zeugen dieser ersten Zeit berichten von einer gewissen Aufbruchstimmung, so scheint demgegenüber die weitere Entwicklung des Archivs während der Kriegsjahre nicht entsprechend den Erwartungen und Wünschen von Handschin verlaufen zu sein: "Durch die Zeitereignisse wurde auch die Arbeit am Aufbau des Photographischen Archivs des Seminars betroffen, da es sich hauptsächlich um Aufnahmen von alten Handschriften handelt, die von Bibliotheken ängstlich behütet werden", bemerkt Handschin 1940 im Jahresbericht für das vergangene Jahr. Erst Anfang der 1950er Jahre konnte der Ausbau in erfreulicher Weise wieder fortgesetzt werden.

Dem setzte jedoch Handschins Tod 1955 ein vorläufiges Ende. Danach verwaltete das Mikrofilmarchiv seine Hilfsassistentin Hanna Harder, die bemüht war, es aufgrund der "zahlreichen nur andeutenden Aufzeichnungen von Prof. Handschin" zu ordnen. Allerdings gab Harder nach der "Verheiratung mit dem Erlanger Musikwissenschaftler Prof. Dr. B. Stäblein ihre hiesige Stellung" auf und zog zu ihrem Mann. Dort hoffte sie, "den noch nicht erledigten Teil" ihrer Aufgabe bewältigen zu können, teils sollte dies "bei einem späteren Aufenthalt in Basel" nachgeholt werden, wie der Basler Altphilologe Harald Fuchs, zwischen 1955 und 1958 interimistischer Vorsteher des Musikwissenschaftlichen Seminars, im Jahresbericht 1957 schreibt. Zu Letzterem kam es jedoch nicht mehr, weshalb Harder fast den gesamten Nachlass Handschins und einen grossen Teil der Filme in Erlangen behielt. Diese bildeten dort, und seit der Überführung des Erlanger Musikwissenschaftlichen Seminars an der Universität Würzburg 2009, einen Grundstock des Bruno-Stäblein-Archivs.

Als Leo Schrade 1958 neuer Ordinarius für Musikwissenschaft wurde, begannen intensivierte Planungen, um neue Räumlichkeiten für das Institut zu finden. Am 5. Juni 1958 wurde eine "Liste der benötigten Räumlichkeiten des Musikwissenschaftlichen Instituts" vorgelegt, worin ein Raum für Mikrofilmsammlung, versehen mit den nötigen Metallschränken für die Filme, sowie den Kartotheken" und ein "Studienraum zum Lesen der Mikrofilme, mit mindestens drei Leseapparaten und der nötigen Verdungklungsvorrichtung" aufgeführt sind. Fand das Institut am Petersgraben 27 1960 eine neue Bleibe, wurden die Forderungen nach den Gerätschaften bereits 1959 mehr als erfüllt. In den Akten des Instituts sind die Offerten für drei Lesegeräte, ein Vergrösserungsgerät und Photokopiergerät der Walter Rentsch AG zu finden. Mit Schrade fing demnach eine zweite Ära des Mikrofilmarchivs an, was Wulf Arlt auch in Schrades Erfahrungen begründet sieht:

"Schrade war emigriert. Die Emigranten in den USA waren natürlich aufgeschmissen, denn sie hatten ja keine Quellen. Wenn sie Filme oder Fotos davon hatten, haben sie sie ausgetauscht. Das heisst, die Idee, ein Filmarchiv aufzubauen, ist ganz wesentlich auch durch die Emigration entstanden. Und Schrade hat denn auch an der Yale University ein riesiges Filmarchiv angelegt. " (Wulf Arlt)

Schrade hat sich nicht nur um die Ausrüstung des Archivs bemüht, sondern auch für eine solide Betreuung eingesetzt. 1962 wurde eine halbe Assistentenstelle für die Verwaltung des Mikrofilmarchivs geschaffen, die zunächst Wulf Arlt, der zu jener Zeit an seiner Dissertation arbeitet, besetzte. Dieser infrastrukturelle Ausbau, wozu auch Kredite für Geräte gehören, ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Universität Basel Schrade, der von anderen Universitäten Rufe erhielt, als Wissenschaftler halten wollte.
In dieser Zeit begann der intensive und systematische Aufbau des Mikrofilmarchivs. Hinsichtlich der Kriterien, nach denen die Filme gekauft wurden, führt Arlt aus:

"Für bestimmte Repertoires haben wir systematisch alles gekauft, was nicht bereits im Druck oder in guten Faksimiles vorlag: alles, was für die Einstimmigkeit wichtig ist. Daneben haben wir für Einzelprojekte Filme gekauft, wenn jemand eine Dissertation geschrieben hat; oder auch für Referate. Die Materialien sind noch da, das ist nach wie vor ein ganz grosses Kapital des Instituts."

Dies führte mit zu dem Ruf des Instituts als ein führendes Zentrum der Mittelalterforschung;

"Das Filmarchiv ist gross geworden und das Filmarchiv war über Jahrzehnte hinweg die Attraktion des Instituts. Egal ob amerikanische Forscher, Leute aus anderen Schweizer Orten, aus Deutschland: Sie alle kamen nach Basel, um im Mikrofilmarchiv zu arbeiten. Es gab in Europa kein Archiv, das so umfassend ist wie dieses." (Wulf Arlt)

Wulf Arlt stand Leo Schrade seit 1962 beim Ausbau des Archivs als Assistent zu Seite. Mit der Wahl von Hans Oesch zum Ordinarius 1967 wurde die volle Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters zur Leitung des Archivs geschaffen, die Arlt bis 1971 inne hattte. In dieser Aufbauphase benötigte es immer mehr Arbeitskräfte, um die Mengen an Material zu bewältigen. Daher wurden 1966 Max Haas und seit Ende der 1960er Jahre Kurt Deggeller als Assistenten am Mikrofilmarchiv angestellt. Das Archiv erhielt ausserordentliche Staatskredite und wurde in den Jahren 1966 bis 1967 sowie 1969 bis 1971 von der Max Geldner-Stiftung utnerstützt. Aus dem von Hans Oesch verfassten "Bericht über das Filmarchiv" vom 1. März 1970 ist zu erfahren, dass das Archiv 1970 über 2700 Filme verfügte. Seit 1971 wurde das Archiv von Max Haas betreut und weiter ausgebaut. Als Nachfolger auf der Stelle des Archivleiters haben bis heute gewirkt: Lorenz Welker (1988–1990), Joseph Willimann (1990–1993), Martin Kirnbauer (1993–2004), Stefan Häusler (2004–2007), Silvia Wälli (2007–2009), Matteo Nanni (2009–2011), Ramona Hocker (2011–2012) und Irene Holzer (ab 2012).

Ende der 1980er Jahre begannen die Mitarbeiter des Mikrofilmarchivs mit einer Rekatalogisierung und der Aufnahme des gesamten Archivbestandes in eine elektronische Datenbank. Aus dem Protokoll der Sitzung der Mitarbeiter vom 21. Oktober 1987 und aus den Briefen, die der damalige Leiter des Archivs Max Haas an die Ausleiher der Filme schrieb, geht hervor, dass vor der Umstellung eine gründliche Inventur des Archivs vorgenommen wurde. Diese Umstrukturierung wurde zu Beginn der 1990 Jahre abgeschlossen. Seit 2007 ist dank Silvia Wälli der elektronische Katalog des Archivs für die Recherche online zugänglich, weshalb der alte Zettelkatalog nicht mehr weiter geführt wurde.

In den Geschichtswissenschaften hat das Arbeiten mit Mikrofilmen eine Tradition, die sich während des 20. Jahrhunderts herausbildete. In der digitalen Zeit des dritten Jahrtausends wird dieser Umgang vielfach als veraltet angesehen, nicht zuletzt weil in jüngerer Zeit immer mehr Bibliotheken und Archive ihre Bestände im Zuge der Digitalisierungsprojekten im Internet zur Verfügung stellen. Dabei stellt sich jedoch unweigerlich die Frage, ob die digitalen Formate, die auf einer höchst komplexen und daher fragilen Technologie beruhen, tatsächlich geeignet sind, um handschriftliche oder gedruckte Kulturgüter für die Zukunft zu bewahren und zugänglich zu machen. Auch wenn derzeit niemand darauf eine Antwort geben kann, weil sie sich erst durch die weiteren Entwicklungen erweisen wird, so birgt sie in sich zweifellos auch die Zukunft des Basler Mikrofilmarchivs.

 

Geschrieben von Tatiana Durisova Eichenberger
Quellen:

  • Interview mit Wulf Arlt (Basel, 16. März 2010)
  • Korrespondenz und Jahresberichte des Musikwissenschaftlichen Instituts (Archiv des Musikwissenschaftlichen Instituts)
  • Jahresberichte des Musikwissenschaftlichen Instituts (Staatsarchiv Kanton Basel-Stadt, ED-REG 1c 230-3-3).

75 Jahre Mikrofilmarchiv Basel

Das Mikrofilmarchiv des Musikwissenschaftlichen Seminars wurde vor nunmehr 75 Jahren gegründet. Erste Impulse gingen Ende 1936 vom damaligen Institutsleiter Jacques Handschin aus, der an die Freiwillige Akademische Gesellschaft ein Gesuch um 600 Franken für den Erwerb einer photographischen Ausrüstung richtete. Mit dieser sollten Aufnahmen von Handschriften hergestellt werden, um Studien anhand der überlieferten "Urmaterialien" durchführen zu können. So wurde zu Beginn des Jahres 1937 die Geräte und Zubehör wie Filme, Alben und Filmtaschen erworben und somit war die Einrichtung "Photographisches Archiv" lebensfähig. Bald wurden erste Aufnahmen von Schweizer Handschriften sowie von nach Basel ausgeliehenen Quellen gemacht. Von der schnellen Expansion zeugen auch die Jahresrechnungen des Instituts: in den ersten Jahren betragen die Kosten für das Archiv an die 40 % der gesamten Ausgaben. Auch die über Bestellungen geführte Korrespondenz zeigt, dass der geographische Fokus schon früh durchforscht wurde und u.a. aus dem "einzigartigen und musikwissenschaftlich noch wenig durchforschten Depot" der Bibliothèque National in Paris Aufnahmen bestellt wurden. Auch wenn während der Kiregsjahre der Aufbau langsamer vonstatten ging – Arbeit am Archiv gab es immer genug.

Im Zuge einer Massnahme zur Beschäftigung arbeitsloser Kaufleute forderte auch das Musikwissenschaftliche Seminar mehrmals Mitarbeiter an, die für die Katalogisierung wie für die photographischen Arbeiten eingesetzt wurden. In den Jahresberichten wird die Bedeutung des Archivs stets unterstrichen indem die muskalischen Quellen als höchst notwendig angesehen werden: Sie ergänzen die Bestände der Universitätsbibliothek durch Materialien aus wichtigen Sammlungen bedeutender Bibliotheken und machen sie vor Ort für die Forschung verfügbar.

Der Aufbau der Basler Sammlung setzte für die Wissenschaft, insbesondere im Bereich der Erforschung der damals kaum bekannten Quellen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, wichtige Impulse. Auch heute noch ist diese mehr als 10.000 Filme bzw. über eine Million Einzelaufnahmen umfassende Sammlung in ihrer systematischen Sammlungstätigkeit sowie ihrer Vielfalt einzigartig im europäischen Raum: Sie enthält fast alle bekannten Quellen der ein- und mehrstimmigen Musik bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, eine breite Auswahl an mittelalterlichen musiktheoretischen Handschriften aus dem europäischen und dem arabischen Raum, sowie repräsentative Bestände vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. In welchem Masse die Filme mit den gleichsam entmaterialisierten Handschriften selbst zu Zeugen der Geschichte wurde, zeigt sich in den Jahresberichten während des Zweiten Weltkriegs: Einerseits erwies sich die Anschaffung neuer Aufnahmen durch die Auslagerungen der Handschriften als schwierig, andrerseits sind es nun die Basler Filme, die den "auswärtigen Forschern Originale ersetzen, die gegenwärtig nicht benützbar sind" – und dies ist in einigen Fällen bis heute so, wenn die Aufnahmen aus der Anfangszeit des Archivs die einzigen zugänglichen Dokumente von im Krieg vernichteten Quellen darstellen.

Anlässlich des 75-jährigen Bestehen des MFAs gab es in der Lesesaalvitrine der UB eine kleine Ausstellung zu sehen, die bis Ende Semptember dauerte.

Ausserdem hat die Tageswoche einen Artikel anlässlich des Jubiläums veröffentlicht. Die BZ schrieb ebenfalls über den 75. Geburtstag des MFA.