MWS Vortragssaal
Vortrag
Die Partitur von «The Great Learning» (1969–1972) von Cornelius Cardew wirkt auf den ersten Blick als «Scratchbook», als heterogenes Konglomerat von Ideen und Konzepten, wie sie Cardew und sein Scratch Orchestra festzuhalten pflegten. Die Bezugnahme auf Konfuzius scheint das Werk in seiner Zeit, im Umfeld des New Age zu verorten. Was Michael Nyman charakterisiert als «the individual personality is absorbed into a larger organism, which speaks through its individual members ‚as if from a higher sphere‘», ist jedoch nicht nur esoterisch zu verstehen, sondern bedient sich gezielt systemtheoretischer und kybernetischer Paradigmen der Nachkriegszeit.
In meinem Vortrag verorte ich The Great Learning im Diskursfeld der Systems Group am Portsmouth Polytechnic und ziehe Vergleiche zu Kreativitätsstrategien und selbst-regulativer Musik bei Brian Eno und Karlheinz Stockhausens Vision eines musikalischen Werks als Organismus, der nicht nur auf seine Umwelt einwirkt, sondern sich mit ihr evolutionär zu verändern vermag. The Great Learning wird damit zur epistemologischen Metapher (Umberto Eco): Haben Sie gewusst, dass man mit Cardews Stück erklären kann, wie sich Taxifahrer die Strassennamen merken?
Michel Roth, geboren in Altdorf (Uri), ist Komponist und Professor für Komposition, Musiktheorie und Artistic Research an der Hochschule für Musik Basel FHNW. Als langjähriger Leiter des Luzerner Studios für zeitgenössische Musik arbeitete er unter anderem mit Pierre Boulez, Helmut Lachenmann, Peter Eötvös und Sofia Gubaidulina zusammen und baute den Studiengang Contemporary Art Performance auf. Seine Werke werden an vielen Festivals im In- und Ausland gespielt und erscheinen im Ricordi Verlag. Zahlreiche Radio- und CD-Produktionen dokumentieren sein Schaffen, für das er mehrere Preise und Förderbeiträge erhalten hat, u.a. den Kompositionspreis der Musica Viva München (BR Symphonieorchester) für sein Orchesterwerk Der Spaziergang. 2011 wurde seine Oper Im Bau am Theater Basel inszeniert (Regie: Georges Delnon), 2016 die abendfüllende «depressive Operette» Die Künstliche Mutter am Lucerne Festival. Er forscht und publiziert über musikalische Spieltheorien (Dissertation an der Universität Basel), Organologie der zeitgenössischen Musik und Alpine Klangsoziologie («Seilbahnmusik»).
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